Ausstellung Hildegard Jaekel in der Adventskirche, Kassel
Diejenigen unter Ihnen, die bisher Hildegard Jaekel und ihr Werk nicht kannten, haben aber mit Sicherheit eine ihrer Arbeiten bewusst oder unbewusst wahrgenommen. Ich meine jene Skulptur im öffentlichen Raum, die 1989 in unmittelbarer Nachbarschaft aufgestellt worden ist, die sich bescheiden und so unauffällig gibt, dass sie leicht zu übersehen ist, die aber ungeheuer komplex und voller Sprengkraft ist. Es ist „Der Stuhl des Chefredakteurs Karl Marx“ auf dem Karl-Marx-Platz.
Da diese Arbeit programmatisch für das Schaffen von Hildegard Jaekel ist, möchte ich noch einen Moment bei ihr verweilen. Wer die Skulptur zum ersten Mal genau betrachtet, muss unwillkürlich lächeln. Denn zu offensichtlich sind die Missverhältnisse, die uns die Künstlerin vorführt: Für den großen Karl Marx gibt es nur einen kleinen, einen winzigen Messingstuhl, der dazu noch auf einer drei Meter hohen Stele unerreichbar über unseren Köpfen schwebt. Wird hier Karl Marx in den Himmel gehoben oder soll er gegen Null verkleinert werden?
Hildegard Jaekel offenbart in dieser Arbeit beispielhaft ihren Sinn für Witz und für die Zuspitzung von Widersprüchen. Und diese Widersprüche gibt es zuhauf. Das fängt damit an, dass der Karl-Marx-Platz, auf dem die Skulptur steht, gar kein Platz ist, sondern eine kleine Verkehrsinsel, ein Zufluchtspunkt für Fußgänger inmitten sich kreuzender Fahrbahnen und Gleise. Was mögen die Verantwortlichen gedacht haben, als sie dieser Fläche verschämt den Namen Karl Marx gaben? Wollten sie den Autor des „Kapitals“ ehren, ohne sich allzu sehr zu ihm zu bekennen? Ohne Hildegard Jaekels Beitrag zum „Projekt Heimat“ wüssten wahrscheinlich die wenigsten von uns, dass diese Fläche einen Namen hat.
Als Hildegard Jaekel in der Vorwendezeit ihre Skulptur plante, galten Marx und sein Werk als überholt und als im sogenannten realen Sozialismus missbraucht. Die Künstlerin wandte sich mit ihrer Arbeit also gegen den Zeitgeist, um gleichzeitig in dem miniaturiserten Stuhl diesem Zeitgeist ein Denkmal zu setzen.
Aber nicht nur inhaltlich, auch formal fesselt diese Arbeit, denn in dem dreieckigen Sockel und in der ebenfalls dreieckigen Stele nimmt die Künstlerin die Form und Proportion des Platzes auf. Darüber hinaus ließ Hildegard Jaekel in den Beton, aus dem die Stele und der Sockel gegossen wurden, Granitsplit mischen, um damit einen Bezug zur Platzoberfläche herzustellen.
Durch die Skulptur wird der städtebauliche Unort in unser Bewusstsein geholt und mit einem Stadtzeichen versehen. Jetzt hat auch die Marx-Ehrung ihren Platz in Kassel. Wir können dem Verein Kassel-West nur danken, dass er 2006 die Initiative ergriff, sich über das Votum des Kunstbeirats hinwegsetzte und mit Hilfe einer Spendenaktion die Skulptur dauerhaft sicherte.
Hildegard Jaekel, die ihren Atelierraum an der Quiddestraße zu einem offenen Begegnungsraum für Kunst gemacht hat, ist in den vergangenen Jahren vornehmlich als Malerin hervorgetreten. Sie selbst fühlt sich aber in erster Linie als Bildhauerin. Sie will im und für den Raum gestalten, Stimmungen bildhaft ausdrücken, Bezüge herstellen und Zustände und Entwicklungen pointiert kommentieren. Ihre plastischen Arbeiten sind deshalb oft mehr als nur Skulpturen, es sind kleine Installationen, die Bühnenbildern gleichen.
Mal geht die Künstlerin eher vom gefundenen Material aus, mal fasziniert sie eine Idee, die sie ausspielen will. Immer drehen sich diese Arbeiten um den Menschen, um seinen Ort, um sein Verhältnis zur Welt und zu den anderen, um Körperlichkeit und Einsamkeit, um das vitale Leben und die Leere. Der in der Barockzeit so gern benutzte Begriff Vanitas, der meint, dass alles eitel und vergänglich sei, gehört zum Selbstverständnis vieler Arbeiten aus dieser Werkstatt. Auf faszinierende Weise hat Hildegard Jaekel in diesem Sinne ein Endzeitbild geschaffen: Eine Bleiplatte und eine auf ihr liegende Glasscheibe lassen das Bild einer spiegelnden Wasserfläche entstehen, das Bild eines bleiernen Sees. Darauf liegt, Schatten werfend, ein dunkles Boot. Es ist schlammig, so als wäre es untergegangen und aus der Tiefe gehoben. Im Boot sieht man den gebrochenen Mast und auch Stoffreste liegen, Spuren des Lebens. Das Ende der letzten Fahrt, das Ende des Lebens ist erreicht.
Während bei Hildegard Jaekel die Gemälde keine Titel tragen, zeugen die Titel der Objekte und Installationen von einer überbordenden Lust am Erzählen. Die Bildhauerin will auf die Erfahrungen und Erlebnisse reagieren, sie will Geschichten erzählen und Botschaften übermitteln. Dem Boot auf dem bleiernen Grund hat sie ein Zitat von Lord Byron beigegeben. Eine andere Arbeit trägt den Titel: „… und am Ende wird gewogen“. Man sieht eine Metallstele, auf der ein spiegelndes Glas befestigt ist. Darauf liegt ein halbrunder Keil, der sich – je nach Belastung – nach rechts oder links neigen kann. Die zur Schaukelbewegung einladende Form wirkt spielerisch, ist aber bedeutungsschwer: Was kann am Ende in die Waagschale geworfen oder hier auf den halbrunden Keil gelegt werden? Dieser Keil sieht ebenso metallisch aus wie die Stele. Doch in Wahrheit handelt es sich um ein mit Schlamm überzogenes Stück Holz, das die Künstlerin so lange geschliffen hat, bis der metallische Glanz hervortrat. Auf der Unterseite ist das Holz rot bemalt. Das wie eine Lebenslinie wirkende Rot wird vom spiegelnden Glas sichtbar gemacht. Das Rot strahlt als Lebenslinie in den Raum ab: Aus dem Verborgenen tritt eine leuchtende Kraft hervor.
Gelegentlich entstehen auch Skulpturen, die keine offensichtliche Botschaft in sich tragen. Dazu gehören die vier Erdstelen. Sie sind mit Schlamm überzogen und wirken so, als könnten sie über sich selbst hinaus in die Vergangenheit weisen, als wären aus den Tiefen der Geschichte geborgen. In drei der vier Stelen sind zwei Hölzer durch straff gezogene Seile eng miteinander verbunden. Diese Arbeiten verraten einen Ansatz zum Figürlichen. Es ist, als seien die aufragenden Figuren auf Gedeih und Verderben aneinander gekettet.
Die mit Erdschlamm überzogenen Stelen sind Zeichen für das Werden und Vergehen. Denn immer noch sind in Anlehnung an die Schöpfungsgeschichte Erde und Staub Sinnbilder für den Anfang und das Ende des Lebens. Damit komme ich wie von selbst zur Malerei von Hildegard Jaekel, denn sie hat die klassischen Öl- und Acrylfarben hinter sich gelassen, um ausschließlich mit Erden, Aschen und Stäuben zu malen. Vielen ihrer Gemälde sieht man den Ursprung der Malmittel nicht an, weil die Künstlerin im Lauf der Jahre eine meisterhafte Technik entwickelt hat, um aus den groben Erden feinkörnige Farben zu gewinnen, die mit Hilfe von Bindemitteln auf die Leinwände aufgetragen werden können.
Mit ihrer Malerei hat uns Hildegard Jaekel einen neuen Zugang zur Wirklichkeit geöffnet. Gewiss, wir wissen, dass es neben schwarz-brauner etwa auch rote Erde gibt. Doch diese Farbenvielfalt, die Hildegard Jaekel aus den Erden herausgeholt hat, hätten wir uns vor der Begegnung mit diesem Werk nicht vorstellen können. Vom Weiß über Gelb- und Ockertöne, über Grün und Schwarz sind fast alle Farben zu finden, zwar, wie die Künstlerin betont, auf einem recht schmalen Spektrum, aber doch mit einer erstaunlichen Strahlkraft. Asche und Steinstaub erweitern dort dien Farbraum, wo die Erden passen müssen.
Hildegard Jaekels Bilder ergeben in der Summe einen Atlas der Erdfarben. Denn sie hat nicht nur an unterschiedlichsten Standorten in Kassel und Umgebung Erdfarben gewonnen. Mittlerweile kann sie sich darauf verlassen, dass ihr Freunde aus aller Welt Erdproben mitbringen. Dadurch hat sich nicht nur die Palette erweitert, sondern dadurch hat sich in die Gemälde eine Erzählstruktur hineingeschoben, die die Farben verortet und mit unterschiedlichen Städten und Ländern verbindet. Insofern stimmt nicht ganz, dass die Bilder keine Titel hätten. Denn die Herkunftsbezeichnungen der Farben und Materialien gewinnen den Charakter von Titeln. So heißt es etwa zu einem 2008 gemalten Bild: „gemalt mit Erden aus Deutschland (Kassel), Süditalien (Mola di Bari), Südfrankreich (Roussillon), Kaolin, Rosenholzasche, Ruß auf Leinwand“. Die Farben sind also Träger einer zweiten Wirklichkeit. Sie sind nicht mehr abstrakte und bindungslose Malmittel, die überall in gleicher Qualität zu haben sind, sondern sie stellen Beziehungen zu Ländern und Orten sowie deren Geschichte her.
Aber es ist nicht nur die ungewöhnliche Herkunft der Farben, die Hildegard Jaekels Malerei so reizvoll macht. Es sind die in den Farbpigmenten verborgenen Stoffe, die den Gemälden ihre Ausdruckstiefe geben. Weil beispielsweise in den aus Erde und Steinen gewonnenen Farben Mineralien enthalten, die auf Licht unterschiedlich reagieren, verändern sich mit dem Standort und der Beleuchtung die Farben und Kompositionen auf erstaunliche Weise. Die Gemälde, die Sie hier sehen, wirken in dem Kirchenschiff völlig anders als im Atelier. Und wenn Sie bei Tages- und Sonnenlicht wiederkommen, werden sie wiederum anders wirken.
Gleichzeitig hat diese Malerei etwas Existenzielles, denn die aufgetragenen Erdfarben, Stäube und Aschen, entstammen dem Boden, in und auf dem sich Leben und Vergehen vollziehen, sie sind also Zeugen des Schöpfungskreislaufs. Das heißt, dass diese Malerei in mythische und religiöse Dimensionen verweist, allerdings auf eine stille, fast verschwiegene Weise.
Eine äußerst vielschichtige Malerei, bei deren Betrachtung ich erst im vierten Schritt zu der Ebene komme, die uns generell am meisten beschäftigt – die Komposition, beziehungsweise die Form der Darstellung. Die meisten Gemälde von Hildegard Jaekel kann man als abstrakt bezeichnen. Schicht um Schicht wird aufgetragen. Die Bilder wachsen heran, und manchmal ist die eine Schicht so massiv und grobkörnig, dass das Bild eine körperliche Kraft gewinnt.
Die Bilder strahlen große Ruhe aus. Dazu trägt bei, dass die Gemälde überwiegend quadratisch angelegt sind. Doch so ganz losgelöst von räumlichen Vorstellungen sind die abstrakten Gemälde nicht. Da deuten sich unterhalb von Kanten Schatten an, da entstehen Faltungen und dort erweitern sich Flächen zu perspektivisch angelegten Räumen. Man spürt den Gestaltungswillen und erzählerischen Ansatz, doch am Ende dominiert das freie Spiel mit den Farbschichten.
Daneben freilich gibt es im Werk von Hildegard Jaekel eine völlig andere Linie – die Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur, mit dem weiblichen Akt. Ein Beispiel sehen Sie hier an prominenter Stelle. Es ist eine Gestalt von ungeheurer Präsenz, die förmlich aus der Bildebene hervortritt. Vor schwarzem Grund sieht man eine rötliche Figur, deren Rundungen herausgearbeitet sind und die in sich ruhend und ganz diesseitig erscheint. Der nach unten geneigte Kopf zeigt an, dass die Gestalt in sich gekehrt ist. Sie wirkt wie eine Erdmutter.
Die Arbeit ist ein Diptychon, das heißt, dass sie aus zwei Bildteilen besteht. Das schmale rechte Bild, fängt förmlich die Kraft der Figur auf. Es leuchtet als ein grünlicher Farbraum und unterstreicht die Plastizität der anderen Tafel und verhilft der ganzen Komposition zu einer großen Offenheit.
Die Rottöne des Körpers hat die Malerin aus der Erde Teneriffas gewonnen. Das exotische Grün hingegen ist ganz bodenständig. Es stammt aus den Tiefen der Erde im Bereich des Botanischen Gartens im Park Schönfeld. 28. 10. 2011